Die Clavierwerke Georg Friedrich Händels sind heutzutage im Bewusstsein sowohl des professionellen Musikers wie auch des musikliebenden Laien kaum mehr als Parerga, denen neben den gewaltigen Opern, Oratorien und Orchesterwerken nur geringe Aufmerksamkeit zuteil wird. Etwas bekannter sind allein die beiden ersten, noch zu Händels Lebzeiten veröffentlichten Sammlungen von Claviersuiten. Während die erste Sammlung (Cluer 1720) wenigstens zum (wenig geliebten) Pflichtprogramm der berufsmäßigen Cembalisten gehört, findet die zweite (Walsh ca. 1733) mehr Anklang bei den zahlreichen Freunden von Händels Musik. Die Fugen und übrigen Clavierstücke jedoch sind längst den Wassern der Λήθη anheim gefallen.
Für die Zeitgenossen hingegen war Händel nicht nur ein geschätzter Komponist sondern vor allem ein bewunderter Virtuose und Improvisator, der die Zuhörer mit seiner Kunst auf dem Clavier faszinierte. [...]
Trotz seines Rufs als Virtuose auf Cembalo und Orgel steht die philologische und musikgeschichtliche Erforschung von Händels Claviermusik, ungeachtet mancher gewichtiger Vorarbeiten zu den gedruckten Werken, in vielen Bereichen noch immer am Anfang. Der als echt geltende Grundbestand seiner Clavierwerke beruht auf den zu Händels Lebzeiten gedruckten Sammlungen (Roger ca. 1720, Cluer 1720, Witvogel 1731/32, Walsh ca. 1733, die sechs Fugen Walsh 1735), so wie sie 1787–1797 in der ersten Gesamtausgabe von Samuel Arnold (1740–1802) zusammengefasst wurden. Doch besitzen gerade diese Editionen einen äußerst unterschiedlichen Grad von Authentizität. [...]
Aus diesen Gründen scheint im Moment die mit dem Jahr 1711 einsetzende englische Überlieferung von Händels Clavierwerken am besten erforscht zu sein, obwohl auch hier immer wieder Neufunde das Bild erweitern. Jedoch muss kritisch angemerkt werden, dass die in HWV und HHA vertretene anglozentrische Perspektive, welche die in der reichen kontinentalen Überlieferung erhaltenen Kompositionen kurzerhand als unecht etikettiert und die wissenschaftliche Beschäftigung mit ihnen als unfruchtbar hinstellt, bestenfalls als einseitig bezeichnet werden kann. Dem erhaltenen Werkbestand und dem wissenschaftlichen Interesse wird sie in keiner Weise gerecht. [...]
Im Verlauf des 20. und 21. Jahrhunderts sind in englischen, deutschen, schwedischen und schweizerischen Bibliotheken immer wieder Clavierwerke aufgetaucht und zum Teil auch publiziert worden, die bis dahin unbekannt waren, Händel aber eindeutig zugeschrieben werden. Doch im Gegensatz zu Johann Sebastian Bach, dessen weniger gut beglaubigte oder selbst unechte Clavierwerke seit 1894 in einem eigenen Band der Ausgabe der Bach-Gesellschaft (BG), seit 2008 in der Neuen Bach-Ausgabe (NBA) gesammelt vorliegen, fehlen solche Vorarbeiten für Händel bis heute. Die zahlreichen Incerta wurden, trotz ausdrücklicher Zuschreibung an Händel, aufgrund stilistischer Anomalien (immer im Vergleich zu den Werken der Londoner Zeit) nicht in den Werkkanon (HWV) aufgenommen. Viele wurden nur bibliographisch erfasst, aber nicht ediert. Andere sind so versteckt überliefert, dass kaum ein Hinweis in der Forschungsliteratur zu finden ist, wieder andere existieren nur in der digitalen Version des RISM, in der sie sich von Tag zu Tag unbemerkt vermehren. [...] Aus diesen Gründen stellt eine Erstausgabe der Händel namentlich zugeschriebenen Clavierwerke, ganz unabhängig von ihrer Authentizität, ein dringendes Desiderat sowohl der Forschung wie auch der Musikpraxis dar. Doch angesichts der Fülle des in seiner Gänze noch kaum gesichteten Materials musste für die vorliegende Edition eine Auswahl getroffen werden, die vorrangig solche Stücke umfasst, deren Authentizität immerhin als möglich erscheint. [...]
Aus dem Vorwort von Carsten Wollin