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Musik zwischen Elbe und Oder
om176 / Band 31
Reinhard Keiser (1674–1739)
Weltliche Kantaten und Arien (Bd. II) / Werke aus handschriftlicher Überlieferung
Erstausgabe
Herausgegeben von Hansjörg Drauschke und Thomas Ihlenfeldt
om176-1
ISMN 979-0-502340-21-6
Leinen
inkl. MwSt. zzgl. Versandkosten 120,00 EUR

Reinhard Keiser (1674 –1739) gehört zu den produktivsten und einflussreichsten deutschen Komponisten um 1700. Das in dieser Zeit entstehende Bewusstsein für eine ästhetisch eigenwertige deutsche Musik, die derjenigen Italiens und Frankreichs auf Augenhöhe gegenüber steht, leitet sich in den ersten zwei Dekaden des 18. Jahrhunderts wesentlich von seinem Schaffen ab. Grundlage dafür ist Keisers melodiebetonter, auf unmittelbar sinnliche Wirkung gerichteter Stil, der für die Musikästhetik im nord- und mitteldeutschen Raum paradigmatische Bedeutung erlangte. Im Zentrum des zeitgenössischen Interesses stehen dabei die großen vokalen Gattungen Oper, Oratorium und (liturgische) Passionsmusik. Diesen Gattungen haben sich bisher auch Forschung und Edition hauptsächlich zugewandt. Initiierend wirkte Keiser freilich auch in den kleineren vokalen Gattungen, vornehmlich der weltlichen Kantate, für deren an italienischen Mustern orientierte deutsche Ausprägung ihm maßgebliche Bedeutung zukommt. Diese Kantaten bilden den Kern der vorliegenden Ausgabe, hinzu kommt weitere Kammer- und Konzertmusik Keisers, die durch gemeinsame Publikation oder handschriftliche Überlieferung eng mit den Kantaten verbunden ist. Insgesamt handelt es sich um ein verhältnismäßig kleines, jedoch äußerst heterogenes Korpus an Werken: um deutsche und italienische Solokantaten, um größer besetzte und auf deutsche Texte komponierte Festmusiken (von denen sich nur ein Bruchteil musikalisch erhalten hat), um Duette und Einzelarien.
Ziel der Ausgabe ist es zunächst, für Musikpraxis und musikwissenschaftliche Forschung verlässliche Notentexte eines Repertoires zu bieten, das bisher noch so gut wie gar nicht in modernen Ausgaben verfügbar war.
Die Beschäftigung mit Keisers vokaler Kammermusik führt zu weiter gehenden Fragen, für deren Bearbeitung eine Basis geschaffen werden soll. Die Werke entstanden für den privaten und halböffentlichen Bereich des höfischen (Braunschweig-Wolfenbüttel) und urbanen Lebensraumes (Hamburg). Damit zielen sie auf andere  ufführungskontexte als Oper und Oratorium und sind textlich wie musikalisch von entsprechend anderen Produktionsbedingungen geprägt. Die Stücke sind Zeugnisse der funktionalen und damit der textlich-musikalischen Vielschichtigkeit nichtszenischer Formen. Auch eröffnen sie einen bisher kaum eingenommenen Blick auf den Komponisten Keiser als Mitglied einer elitären Lebenswelt jenseits von Bühne, Konzertsaal und Kirche.
Durch die Publikation solcher Werke veränderte sich wiederum die Perspektive: Nun wendeten sich dieselben Kompositionen an eine breite öffentliche Käuferschaft aus unterschiedlichen sozialen Gruppen und wirkten weit
über den Verlagsort hinaus. Durch den Druck wurden sie in einer endgültigen Form festgeschrieben und dem öffentlichen Diskurs übergeben, dem die Vorworte in verschiedener Weise Vorschub leisteten.
In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass Keiser ganz selbstverständlich Musik aus seinen Opern zu Kammermusik umarbeitete. Die jeweils vorgenommenen Anpassungen an den neuen Rezeptionskontext
ermöglichen Einblicke in Keisers Verständnis vom Unterschied zwischen Musik für die Kammer und solcher für die Bühne. Greifbar werden möglicherweise auch allgemeine Erwartungen an den Standard von Kammermusik,
wie er u. a. für Hamburg verbindlich war. Darüber hinaus wird es erstmals an zahlreichen Beispielen möglich sein, Keisers Verfahren der Eigenparodie zu untersuchen. Um das zu erleichtern, sind die ermittelten Vorlagekompositionen, soweit sie nicht schon in einer Neuausgabe vorliegen, im Anhang mitgeteilt.
Auch bei den handschriftlich überlieferten Kantaten und Arien Keisers wird die grundsätzliche Nähe zwischen Opern-, Konzert- und Kammermusik – nun als Rezeptionsphänomen – deutlich. Oft enthalten Sammelhandschriften sowohl Kantaten als auch Opernarien, möglich ist auch die Gewinnung einer Kantate aus Opernausschnitten durch einen fremden Bearbeiter. Exemplarisch dafür werden im zweiten Band der Ausgabe neben den Kantaten
eine solche Sammelhandschrift und eine aus Opernmusik gewonnene Kantate ediert. Werke ungeklärter Autorschaft, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Keiser stammen, erscheinen im Anhang. Keisers Drucke bieten über die Musik und die vertonte Poesie hinaus weiteres wertvolles Material. So stellen einige der Vorreden neben Keisers „Anmerckungen“ zu Johann Matthesons Neu-Eröffnetem Orchestre (Hamburg 1713) die einzigen überlieferten musikästhetischen Äußerungen des Komponisten dar. Alle Vorreden der Kantatendrucke wurden vollständig faksimiliert. In den Widmungen schließlich werden Keisers Vernetzung innerhalb der Hamburger Kulturlandschaft und das enge Vertrauensverhältnis, in dem er zu vielen Widmungsträgern stand, greifbar.
Die vorliegende zweibändige Ausgabe bildet den Abschluss eines bei Florian Noetzel, Wilhelmshaven, begonnenen Editionsprojektes. Dort erschien 2005 ein erster Band, der die beiden großbesetzten Kompositionen Hercules auf dem Scheide-Wege (bis 1713; Text aus unbekanntem Anlass von Johann Ulrich König) und Entlaubte Wälder (Hochzeitsserenata, 1716; Text von Michael Richey) enthält.

Hansjörg Drauschke
Thomas Ihlenfeldt

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