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om7 / Band 3
Johann Wilhelm Hertel (1727–1789)
Der sterbende Heiland
Passionskantate
für Soli (STB), Chor (SATB), 2 Hr, 2 Fl, 2 Ob, 2 Fg, Str und Bc
Herausgegeben von Franziska Seils
 
Dauer: ca. 74 min
om7
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Johann Wilhelm Hertels Passionskantate „Der sterbende Heiland“ wurde erstmalig am Karfreitag des Jahres 1764 in Schwerin aufgeführt. Sie ist die früheste von insgesamt zehn großen geistlichen Kantaten, die Hertel in seinem über drei Jahrzehnte währenden Dienstverhältnis für das Mecklenburg-Schweriner Fürstenhaus komponierte.

Hertel, der aus einer Eisenacher Musikerfamilie stammte und schon in jungen Jahren ein Meister auf dem Klavier war, kam im Jahre 1742 an der Seite seines Vater, des bekannten Geigers und Komponisten Johann Christian Hertel (1697–1754) nach Mecklenburg-Strelitz und diente dort einige Zeit in der herzoglichen Kapelle. Der um seine gute Erziehung und Ausbildung sehr bedachte Vater ermöglichte ihm Studienaufenthalte in Zerbst und Berlin. Seit 1754 wirkte Johann Wilhelm Hertel als „Hof- und Capell-Componist“ in Mecklenburg-Schwerin, zunächst unter Herzog Christian Ludwig II (reg. 1754–1756), später unter dessen Sohn Friedrich (reg. 1756–1785), der auf Grund seiner pietistischen Neigungen als „Friedrich der Fromme“ in die Geschichte eingegangen ist. Beide waren gebildete und kunstsinnige Herrscher, die das Musikleben bei Hofe in sehr unterschiedlicher Weise prägten: Unter Christian Ludwig hatte Hertel vor allem Instrumentalmusik und repräsentative Festkantaten zu komponieren; Herzog Friedrich dagegen war „vorzüglichst …Liebhaber der geistlichen Musik“.[1]

Den Kompositionsauftrag zu der Passionskantate „Der sterbende Heiland“ erhielt Hertel im Jahre 1763, allerdings nicht von Herzog Friedrich, sondern von dessen jüngerem Bruder, dem Prinzen Ludwig (1725–1778). In jener für Mecklenburg-Schwerin äußerst schwierigen Zeit nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges orientierte sich der Herzog mit seiner Hofhaltung zunehmend nach Ludwigslust; in den folgenden Jahren entstand dort eine prachtvolle Residenz. Die Geschwister – Prinz Ludwig und Prinzessin Ulrike Sophie (1723–1813) – residierten weiterhin in Schwerin; Ludwig hielt dort das höfische Musikleben aufrecht. Es ist anzunehmen, daß er mit der Erteilung des Kompositionsauftrages für den „Sterbenden Heiland“ auch die Einrichtung eines Passionskonzertes veranlaßte, das den äußeren Rahmen für die Aufführung von Hertels Passionskantate gebildet haben wird.

Ludwigs Privatsekretär zu jener Zeit war Johann Friedrich Löwen (1727–1771) – der Textdichter des „Sterbenden Heilands“. Löwen stammte aus einer Clausthaler Bergmannsfamilie, studierte kurzzeitig Philologie und Theologie, wirkte als Dichter und Theaterpublizist und arbeitete für mehrere der bekannten Schaubühnen. In die Geschichte eingegangen ist er als Mitbegründer des Deutschen Nationaltheaters in Hamburg (1767) und damit als enger Weggefährte Gotthold Ephraim Lessings (1729–1781). Aus Gründen seiner schwierigen Finanzlage hatte er im Jahre 1757 die Sekretärstätigkeit bei Prinz Ludwig aufgenommen. Das Leben am Hofe mit all seinen „unerträglichen Cabalen“[2] war dem exaltierten Dichter verhaßt, „süße Augenblicke“[3] bescherte ihm einzig die enge Freundschaft zu Kapellmeister Hertel, eine Freundschaft, die ihr festes Fundament in der gemeinsamen Arbeit hatte. Schon vor Antritt seiner Sekretärstätigkeit hatte Löwen regelmäßig Libretti für repräsentative Festkantaten nach Schwerin gesandt, die von Hertel vertont wurden. Zwei gemeinsame Sammlungen von Oden und Liedern erschienen in den Jahren 1757 und 1760 in Leipzig bei Breitkopf im Druck. Darüber hinaus verband die beiden das gemeinsame Nachdenken und theoretische Arbeiten über Musik und Dichtung. Hertel konnte in den Jahren 1757/58 eine „Sammlung musikalischer Schriften“ drucken lassen, die auch zwei literaturtheoretische Aufsätze Löwens enthält.

Am Karfreitag des Jahres 1755 hatte in Berlin im Rahmen eines Konzertes der „Musikübenden Gesellschaft“ die erste Aufführung der Passionskantate „Der Tod Jesu“ von Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) und Carl Heinrich Graun (1703/4–1759) stattgefunden. Das Werk wurde enthusiastisch aufgenommen und in den folgenden Jahren zum Inbegriff einer „empfindsamen“ Passionsmusik stilisiert. Hertel und Löwen teilten die Begeisterung der Zeitgenossen über die Kantate Ramlers und Grauns. Sie „verdunkelt“ „alle geistliche(n) Compositionen (ihres) Jahrhunderts“[4] schrieb Löwen in seinen „Anmerkungen über die geistliche Cantatenpoesie“. Johann Wilhelm Hertel urteilte über die Kantatendichtung Ramlers: „Ich kenne niemand, der es in dieser Kunst höher gebracht hätte“.[5] Auch die Musik seines hochverehrten ehemaligen Kompositionslehrers Graun wird Hertel sehr geschätzt haben: Im Jahre 1757 verwandte er sich bei dem Leipziger Verleger Breitkopf für eine Drucklegung des „Tod Jesu“.

Johann Friedrich Löwen empfahl das „schöne Gedicht“ des „Herren Ramler“ „(s)einen Landsleuten zum besten Muster und zur glücklichsten Nachahmung".[6] Die Dichtung „Der sterbende Heiland“ trägt deutlich Züge der Vorbildwirkung des „Tod Jesu“. Genau wie Ramler reduziert auch Löwen die Passionsgeschichte auf ihre affektstärksten Momente (Gebet und Gefangennahme zu Gethsemane, Verrat und Reue des Petrus, Geißelung, Kreuzigung und Tod) und läßt sie darüber hinaus nicht in herkömmlicher Weise berichten, sondern spiegelt sie in den Emotionen eines lyrischen Ichs. Allerdings offenbaren sich schon bei einer genaueren Betrachtung des Vokabulars die Unterschiede zwischen beiden Kantaten stärker als die Gemeinsamkeiten. Ramlers Christus ist der „holde“ und „sanfte“ „Menschenfreund“, der „Beste aller Menschenkinder“, der den Glaubenden den „steilen Pfad“ zum „Tugendtempel“ weist und sogar am Kreuz „heiter“ „bleibt“. Von dieser gelassenen Grundhaltung ist in Löwens Dichtung nichts zu spüren. Fast lustvoll schildert er die „Höllenqualen“, die Christus in Gethsemane und am Kreuz durchleidet und benutzt dabei ein Vokabular, das in seiner Drastik und Bildhaftigkeit die Barocksprache nachklingen läßt.[7] Auch sein Christusbild und damit sein Passionsverständnis im Vergleich mit dem Ramlerschen weitaus konventioneller. Löwen interpretiert die Passionsgeschichte vor dem Hintergrund der lutherischen Versöhnungslehre. Er bezeichnet Christus zwar im Sinne Ramlers als „Menschenfreund“, reduziert aber seinen Opfertod am Kreuz nicht auf eine vorbildliche tugendhafte Handlung. Für Löwen ist Christus der Gottessohn, der aus Liebe zu den Menschen den „Zorn der Rache“ des richtenden Gottes auf sich nimmt; er „bürg(t) für uns verworfne Kinder, für die kein Mensch, kein Engel bürgen kann“. Aber er ist nicht nur der Leidende und Gequälte, er ist auch selbst der „Keltertreter“[8] und der Weltenrichter. Im Text des „Sterbenden Heilands“ offenbart sich das Bestreben, den Hörern durch die Vergegenwärtigung der Passionsereignisse ihre Sündhaftigkeit vor Augen zu stellen und sie zu Reue und Buße zu führen. Fraglich ist allerdings, ob eine derartige Haltung, die den Menschen absichtlich klein macht und mit seinen Schuldgefühlen spielt, wirklich die Position des Dichters und Theaterfreundes Löwen widerspiegelt. Hier scheinen sich eher Intentionen Herzog Friedrichs zu zeigen, der als junger Mensch in eigens gedichteten Kantatentexten gegen die „verderbt’ und sich’re Christenheit“ gewettert hatte und der die geistlichen Konzerte in Ludwigslust volksoffen hielt, um seine Untertanen zu festem Glauben zu erziehen.

Ein ähnliches Verhältnis wie das der beiden Dichtungen zueinander läßt sich auch für die Vertonungen aufzeigen. Zweifelsohne stand Hertel bei der Komposition seiner Passionsmusik unter Eindruck des „Tod Jesu“. Die vielfältigen Beziehungen zwischen beiden Werken reichen von bewußt schlicht gesetzten Chorälen und sorgfältig gearbeiteten Chorfugen über motivische Ähnlichkeiten zwischen affektgleichen Arien bis hin zu übereinstimmenden melodischen Wendungen in den hymnischen Schlußchören.[9] Aber wie für die Texte festgestellt berühren auch musikalischerseits die Gemeinsamkeiten eher die Oberfläche. Verglichen mit Grauns abgeklärter und melodieorientierter Tonsprache ist der musikalische Stil der Hertelschen Kantate einerseits von einer starken Affinität zur barocken Tonmalerei getragen und im Detail stärker dem kontrapunktischen Denken verhaftet, andererseits aber gerade im Harmonischen äußerst unkonventionell und impulsiv. Diese sehr eigene Verbindung von traditionellen Zügen und einer zum Teil ganz neuartigen Expressivität läßt Hertels Passionsmusik janusköpfig erscheinen, macht aber auch ihren großen Reiz aus.

„Um … vielen Liebhabern mich gefällig zu zeigen, die mich schon seit einigen Jahren darzu ersuchet (haben)“ entschloss sich der mecklenburgische Meister im Jahre 1773, die Passionskantate „Der sterbende Heiland“ „selbst drucken und verlegen zu laßen“.[10] Allerdings konnte er seine Absicht nicht in die Tat umsetzen. Alle Bemühungen des Komponisten, die Passionskantate einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen[11] blieben damals erfolglos, zeigen aber um so mehr, daß Hertel um die besonderen Qualitäten seiner Komposition wußte. Auch die Zeitgenossen verstanden das Werk zu schätzen: Der fromme Herzog ließ es in den 70er und 80er Jahren mehrfach in den Ludwigsluster geistlichen Konzerten aufführen. 1783 erklang „Der sterbende Heiland“ neben Kompositionen von Carl Heinrich Graun, Gottfried August Homilius (1714–1785) und Johann Heinrich Rolle (1716–1785) in Schwerin innerhalb einer Reihe von „geistlichen Concerten oder Paßionsmusiken auf dem Hiesigen Rathhause“.[12]

(Vorwort zur Partitur von Franziska Seils)

 

1: Johann Wilhelm Hertel: Autobiographie, herausgegeben und kommentiert von Erich Schenk, Graz und Köln 1957 (Wiener Musikwissenschaftliche Beiträge Band 3), S. 51.
2: Brief Johann Friedrich Löwens an Herrn H ** in S**, in: Johann Friedrich Löwens Poetische Werke. Erster Theil, Hamburg u. Leipzig 1760, S. 363.
3: Löwen (vgl. Anm. 2), S. 360.
4: Johann Friedrich Löwen: Anmerkungen über die geistliche Cantatenpoesie, in: Johann Wilhelm Hertel: Sammlung musikalischer Schriften, größtentheils aus den Werken der Italiäner und Franzosen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Johann Wilhelm Hertel. Zweytes Stück, Leipzig 1758, S. 163.
5: Johann Wilhelm Hertel, Pränumerationsanzeige für den „Sterbenden Heiland“, in: Johann Adam Hiller: Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen, die Musik betreffend, 1. Jahrgang Leipzig 1766/67, S. 320.
6: Löwen (vgl. Anm. 4), S. 165.
7: Die antijudaistischen Formulierungen im Rezitativ Nr. 24 sind zeitbedingt und lassen sich in ähnlicher Weise auch in anderen Kantatentexten des späteren 18. Jahrhunderts finden.
8: vgl. Offenbarung 14;19/20.
9: Zur musikalischen Beziehung zwischen Grauns „Der Tod Jesu“ und Hertels „Der sterbende Heiland“ vgl. Franziska Seils: Das geistliche Vokalwerk Johann Wilhelm Hertel. Ein Beitrag zur Geschichte der evangelischen Kirchenmusik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, maschinenschriftliche Dissertation, Rostock 1991, S. 67ff.
10: Brief Johann Wilhelm Hertels an den Verleger Breitkopf vom 18. 4. 1773, zitiert nach: Erich Schenk: Johann Wilhelm Hertel und das Haus Breitkopf, in: Festschrift Hans Engel, hrsg. von Horst Heussner, Kassel/ Basel usw. 1964, S. 325.
11: Ein Jahr zuvor hatte Hertel die Passionskantate dem Leipziger Verleger Breitkopf zum Druck angeboten und bereits 1767 einen Versuch unternommen, das Werk in Hamburg bei Bock verlegen zu lassen.
12: Schwerinsche Zeitung vom 17.4.1783.

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