Wer heute die Bazylika Mariacka in Gdańsk, die Danziger Marienkirche, besucht, dem wird – auch ohne ein besonderes Verhältnis zur Orgel zu haben – der prächtige Prospekt der Orgel vor der Westwand auffallen. Mit der Wiederverwendung dieses Gehäuses für ein Instrument von 1985[1] wird an eine „goldene Zeit“ im Orgelbau der Stadt erinnert. Mehr als dreihundert Jahre lang gehörten dieser Prospekt von 1629 und zwei etwas jüngere, getrennt aufgestellte Pedaltürme zur raumbeherrschenden Ausstattung der nahegelegenen Johanniskirche (Kościół św. Jana)[2]. Das in dieser Ausbaustufe 1746 fertiggestellte Instrument ist auf das Engste mit dem Namen des Organisten Daniel Magnus Gronau (gest. 1747) verbunden. Beginnend mit den Hinweisen von Hermann Rauschning in dessen 1931 veröffentlichter Geschichte der Danziger Kirchenmusik und den Veröffentlichungen von sechs Reihen von Choralvariationen, die sämtlich auf Abschriften von Gotthold Frotscher beruhten, bildete sich um Gronaus Namen eine gewisse Aura des Geheimnisvollen, weil seine Kompositionen Neugierde erweckten und das spurlose Verschwinden des von Rauschning und Frotscher benutzten Manuskripts nach 1947 schmerzte.[3]
Martin Rost und Krzysztof Urbaniak hatten 2012 das Glück, einen Mikrofilm des zuletzt von Jan Janca in Gdańsk-Wrzeszcz gesehenen Konvoluts mit 40 Choralvariationsreihen in der Newberry Library in Chicago zu entdecken. Schon bald konnten zwei Variationszyklen auf der von 2010 bis 2013 restaurierten Hildebrandt-Orgel von 1717/19 in Pasłęk (Preußisch Holland) eingespielt werden.[4] Dieses Instrument stellt heute die letzte große, klingend erhaltene Zeugin des Danziger Orgelbaus aus der Zeit von Andreas Hildebrandt und Daniel Magnus Gronau dar. Die erste vollständige Edition, die Martin Rost und Krzysztof Urbaniak im ortus musikverlag veröffentlichten, wurde im Rahmen der 69. Greifswalder Bachwoche bei einem Symposium in der Marienkirche Stralsund am 15. Juni 2015 vorgestellt. Alle Referenten haben dankenswerterweise für den vorliegenden Band ihre Beiträge zur Verfügung gestellt.
Die Bedeutung der Orgelmusik im Rahmen der Gottesdienstordnungen schildert Bernhard Schmidt. Wolfgang Miersemann und Hans-Otto Korth ordnen die Liedauswahl Gronaus in die Geschichte des evangelischen Kirchengesangs ein und untersuchen die Liedmelodien im Einzelnen. Eine detaillierte Geschichte der Orgeln in der Johanniskirche im 17. und 18. Jahrhundert legt Krzysztof Urbaniak auf Grund erstmals erschlossener Quellen vor. Ekkehard Krüger führt Daten zu Gronaus Vita zusammen und geht wiederkehrenden Mustern in den Choralvariationen nach.
Die Erschließung verschwunden geglaubter oder lange nicht beachteter Quellen fällt in eine Zeit großer Anstrengungen für die Rückgewinnung verlorener Klänge in den wiederaufgebauten Kirchen von Gdańsk. Während die Autoren die Gronau-Edition und die Forschungen zu den Liedern und seinen Orgeln beschäftigten, werden in Gdańsk anspruchsvolle Orgelbauprojekte in der Kirche des Franziskanerklosters (Kościół św. Trójcy/Trinitatiskirche) und in St. Johannis in Angriff genommen.
Ekkehard Krüger
[1] Gebrüder Hillebrand (Altwarmbüchen).
[2] Das Gebäude gehört seit 1991 der Erzdiözese Gdańsk und wird vom Nadbałtyckie Centrum Kultury (NCK, Ostsee-Kulturzentrum) verwaltet. Regelmäßig wird vor dem Altar von 1611 durch die Künstlerseelsorge der Erzdiözese wieder die Messe gefeiert. Im Westen des Innenraums ist eine Bühne installiert. Im Unterschied zu anderen kriegszerstörten Baudenkmälern in Gdańsk wurde bei der vergleichsweise spät begonnenen Restaurierung des Innenraums auf eine sichtbare Unterscheidung von originaler Substanz und Ergänzungen Wert gelegt. Statt der in der Vergangenheit üblichen Namen – St. Johann, St. Johannes, St. Johannis – wird in diesem Band einheitlich „St. Johannis“ verwendet.
[3] Zur Forschungs- und Publikationsgeschichte siehe Martin Rost: „Daniel Magnus Gronau und seine Choralvariationen für Orgel“, in: Daniel Magnus Gronau, Choralvariationen für Orgel, hrsg. von Martin Rost und Krzysztof Urbaniak, 2 Bde. (= ortus organum 6), Beeskow 2015, S. VI-VIII.
[4] „Danziger Barock I“ (Martin Rost) und „Danziger Barock II“ (Krzysztof Urbaniak) mit Kompositionen von Gronau, Friedrich Christian Mohrheim und Theophil Andreas Volckmar (PASCHENrecords).
Inhalt/Beiträge:
Bernhard Schmidt: Gottesdienstordnungen in Danzig im 18. Jahrhundert
Wolfgang Miersemann: Daniel Magnus Gronaus Choralvariationen vor dem Hintergrund der Entwicklung des geistlichen Liedes im 17. und frühen 18. Jahrhundert
Hans-Otto Korth: Bibliographische Angaben zu den von Daniel Magnus Gronau bearbeiteten Liedern
Krzysztof Urbaniak: Orgelgeschichte der Johanniskirche in Danzig von ca. 1671 bis 1760
Ekkehard Krüger: Zur Biographie Daniel Magnus Gronaus und seinen Choralvariationen