Otto Dessoff gehört ohne Zweifel zu den großen Dirigenten des 19. Jahrhunderts, wie die eindrucksvolle Bilanz seines Wirkens in Wien, Karlsruhe und Frankfurt am Main zeigt. […] Als Komponist wurde Dessoff schon zu Lebzeiten völlig vergessen. Da ein Sinfoniesatz und eine Violinsonate aus seiner Leipziger Studienzeit nicht erhalten sind, besteht sein schmales, aber durchweg musikalisch wertvolles Œuvre, zum größten Teil zwischen ca. 1857 und 1880 im Druck erschienen, wohl auch die Frucht strenger SeIbstkritik, aus 33 Liedern, einem Heft Chöre, zwei Klavierwerken, zwei Streichquartetten und einem Streichquintett, die bezeichnenderweise vor seinem Engagement in Wien und in Karlsruhe entstanden sind. […]
Das Streichquartett op. 11 vereint alle Vorzüge, die seine beiden gleichgewichtigen Vorgängerwerke Opus 7 und 10 ausgezeichnet hatten, mit einer beispiellosen Steigerung der harmonischen, rhythmischen und satztechnischen Raffinesse und mit einer noch größeren Prägnanz des thematischen und motivischen Materials. Wie in Opus 7 und 10 steht an Stelle des Scherzos als dritter Satz ein kurz gefasstes Intermezzo (Allegro moderato, 3/8-Takt), das im Trio F-Dur noch mehr Wiener Charme versprüht als an etlichen Stellen das F-Dur-Quartett op. 7. Den Höhepunkt des Werkes bildet ohne Zweifel der langsame Satz, das Andante, das nach den Vorbildern bei Schumann (op. 41, Nr. 2, 3. Satz; op. 41, Nr. 3, 2. Satz) und Brahms (op. 67, 4. Satz) als Variationenfolge konzipiert ist. Dem 16-taktigen trauermarsch-artigen Thema in cis-Moll folgen vier ziemlich frei und sehr unterschiedlich profilierte Variationen, die als solche nicht angezeigt sind: ein terzen-seliges, z. T. punktiertes Gewebe von 16teln, ein geisterhaft daherhuschendes Allegro agitato im 6/8-Takt, ein scherzo-artiges Presto appassionato im 3/8-Takt und ein Siciliano-Andantino in Des-Dur mit pseudokanonischen Imitationen zwischen erster Geige und Bratsche, das an die siebte Variation (Grazioso) der Variationen über ein Thema von Joseph Haydn op. 56a/b von Brahms erinnert, ohne auch nur im Geringsten epigonal zu wirken. Etwas Besonderes hat sich Dessoff für die 28 Takte der Coda (Tempo del Tema) einfallen lassen: die drei Unterstimmen spielen mit Hilfe von geschickt gesetzten Doppelgriffen das nahezu unveränderte Thema (in der Version vor den Wiederholungen), die erste Violine fährt mit Trompetenfanfaren (in 32teln) und erregten punktierten 32tel-Figuren dazwischen, die in den letzten, immer leiser werden zwölf Takten über einem Orgelpunkt Cis in die Viola und dann in das Violoncello wandern.
Aus dem Vorwort von Joachim Draheim