Johann Heinrich Rolle wurde am 23. Dezember 1716 in Quedlinburg als jüngster Sohn des Stadtkantors Christian Friedrich Rolle und seiner Frau Anna Sophia in eine Musikerfamilie hineingeboren. Der Vater sorgte selbst für die musikalische Ausbildung seines Sohnes. In jungen Jahren trat jener bereits als Komponist und ab 1734 als Organist an der Petrikirche in Magdeburg hervor. Nach dem Studium ging Rolle nach Berlin, um für kurze Zeit als Justitiar dort tätig zu werden; auf Anraten eines nicht bekannten Freundes und Gönners trat er 1741 in die Berliner Hofkapelle Friedrichs II. als Kammermusiker ein. Er wirkte dort sechs Jahre als Violinist und Bratschist. Die Anstellung in einer der bedeutendsten Hofkapellen seiner Zeit spricht für die musikalische und künstlerische Befähigung des jungen Rolle. Der Umgang mit Carl Philipp Emanuel Bach, den Brüdern Benda und Carl Heinrich Graun beeinflusste seine künstlerische Entwicklung nachhaltig.
1746 wurde Rolle als Organist an die Hauptkirche St. Johannis nach Magdeburg berufen. Neben dem Organistendienst gehörte die Mitwirkung bei der sonntäglichen Figuralmusik zu seinen Dienstpflichten. In dieser Zeit entstanden viele seiner Kirchenkantaten und auch die Matthäus-Passion, die sein Vater uraufführte. Im August 1751 starb der Vater. Johann Heinrich war einer von drei in die engere Wahl gezogenen Kandidaten um die Nachfolge. Seine Bewerbung verlief erfolgreich, und am 4. März 1752 erfolgte seine Ernennung zum Magdeburger Musikdirektor, verbunden mit der Übernahme des Kantorats am Altstädtischen Gymnasium.
Rolle schuf eine nennenswerte Zahl von Kantaten und über 70 Motetten, die etwa bis 1760 entstanden sein dürften. Nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges begründete Rolle eine öffentliche Konzertreihe im Seidenkramer-Innungshaus, die sich vornehmlich an die gebildete Bürgerschaft, aber auch den Adel richtete. Von 1764 bis zu seinem Tod wurden zwischen November bis Mitte April jeweils 12 bis 16 öffentliche Konzerte veranstaltet. In diesen Konzerten kamen auch Rolles „musikalische Dramen“ zur Aufführung. Religiöse Stoffe, vor allem aus dem Alten Testament wie z.B. Die Opferung Isaacs, Der Tod Abels, bildeten die inhaltliche Grundlage. Insgesamt schuf Rolle zwischen 1765 und 1785 17 derartige musikalische Dramen, die seinen Ruf als herausragenden Komponisten seiner Zeit begründeten und eine starke Rezeption in Norddeutschland erfuhren. Neben diesen musikalischen Dramen, geschrieben für konzertante öffentliche Aufführungen, vertonte Rolle für den Kirchenraum das Passionsgeschehen. Acht derartige Werke sind bekannt - vier oratorische Passionen nach den Evangelisten (davon sind zwei erhalten) und vier Passionsoratorien, die sämtlich überliefert sind.
Seine Matthäus-Passion komponierte Rolle für die Passionszeit 1748. Die erste Aufführung fand am 5. April 1748 statt. Anders als in Leipzig, Dresden oder Hamburg, wo jährlich neue Werke für die Passionszeit gefordert wurden, war es in Magdeburg üblich, dass ein Werk in Auftrag gegeben wurde und über vier Jahre unverändert blieb, also dreimal wiederholt wurde.
Als Textgrundlage dient das Matthäus-Evangelium in Martin Luthers Übersetzung ab Kapitel 26, Vers 30 (bis zum Ende von Kapitel 27). In Rolles dramaturgischem Konzept lässt sich eine Gliederung des Werkes in sechs Abschnitte ausmachen. Jeder Abschnitt enthält berichtende Rezitativanteile, Ariosi, Turba-Chöre, eventuell gliedernde Binnen-Choräle und eine zentrale Arie. Am Schluss steht jeweils ein Choral. Das begleitende Orchester ist mit Streichern, zwei Oboen und zwei Hörnern für Einleitungs- und Schlusschor besetzt, daneben werden zwei Flöten, zwei Oboen d’amore und zwei Fagotte in einzelnen Arien vorgeschrieben.
Rolles Deutung des Matthäus-Textes bildet einen gewichtigen Baustein für eine noch ausstehende Gesamtbeschreibung mittel- und norddeutscher Passionskompositionen des 18. Jahrhunderts. Für sein eigenes Komponieren bedeutet sie ob ihrer konsequenten abschnittweisen Durchkomposition einen gewichtigen Schritt hin zu seinen später geschaffenen musikalischen Dramen.
(Aus dem Vorwort von Klaus Winkler)