Zu den charakteristischen Zügen der Graunrezeption zählt die Tatsache, dass sich das Bild vom preußischen Hofkapellmeister Carl Heinrich Graun posthum zunehmend mehr auf den Komponisten der 1755 in Berlin uraufgeführten Passionskantate „Der Tod Jesu“ verengte. Die Erfolgsgeschichte dieses Werks, die ihresgleichen in der Musikgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts sucht, ließ das übrige, sehr umfangreiche vokale und instrumentale Œuvre des Komponisten allmählich in den Hintergrund treten. Umgekehrt entfachte die Komposition ein gewisses Interesse an dem älteren kirchenmusikalischen Schaffen aus seiner Dresdener und Wolfenbütteler bzw. Braunschweiger Zeit. Da der geistlichen Musik am Hof Friedrichs II. keine Bedeutung zugemessen wurde, hatten die betreffenden Werke Grauns bis dahin kaum eine Rolle in Preußen gespielt. Nachdem die von der Prinzessin Anna Amalia angeregte Aufführung der Passion „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ 1754 im Berliner Dom die Institution des geistlichen Konzerts in Berlin begründet hatte, kam es in Berlin nach dem Siebenjährigen Krieg zu weiteren Aufführungen dieser Komposition sowie auch der anderen Braunschweiger Passion „Kommt her und schaut“ und auch das sehr wahrscheinlich noch in Dresden entstandenen „Herr Gott dich loben wir“. In Breslau setzte Johann Adam Hiller bei seinem Graun-Gedenkkonzert 1789 ein Stück aus Grauns Weihnachtsoratorium auf das Programm. Die Johann Friedrich Agricola zugeschriebene biographische Skizze Grauns schießlich (die erste ihrer Art), welche dem zweiten Band des repräsentativen Drucks der „Duetti, Terzetti, Quintetti, Sestetti, ed alcuni Chori delle Opere del Signore Carlo Enrico Graun“ (Berlin u. Königsberg 1773) vorangestellt wurde, informierte das zeitgenössische Publikum überblickshaft über sein früheres Schaffen. So ist hier von „mehr als zween Jahrgänge(n) von Kirchenstücken“ aus Grauns Dresdener Zeit die Rede sowie in Bezug auf sein Braunschweiger Wirken von Kantaten, dem Weihnachtsoratorium, zwei Passionsoratorien und einer Trauermusik. Agricola, der sein Wissen möglicherweise noch von Graun selbst bezogen hatte, kannte das Osteroratorium offensichtlich nicht. Es wird einzig in Johann Adam Hillers Graun-Biographie, die sich wesentlich auf Agricolas Arbeit stützt, erwähnt, und zwar im Zusammenhang mit seinen Dresdener Werken: „Es ist unter diesen auch ein ziemlich langes Osteroratorium; doch findet man in allen diesen Compositionen das geschmeidige, singbare und gefällige Wesen nicht, was die nachherigen Compositionen unsers Grauns so sehr auszeichnet. An gut gearbeiteten Chören fehlt es ihnen indeß keineswegs.“
Leider ist nicht mehr nachvollziehbar, woher Hiller seine Informationen und seine Kenntnis des Graunschen Kirchenmusikschaffens bezog. Der stilistisch begründeten Zuweisung des Osteroratoriums zu Grauns Dresdener Schaffensperiode lassen sich indessen Argumente entgegenhalten, die für eine Datierung in der (frühen) Braunschweiger Zeit sprechen. Vorab ist dazu einschränkend zu bemerken, daß es derzeit noch keine verläßliche Grundlage für eine Chronologie der Werke Grauns gibt. Weder sind wir hinreichend über die lokalen Bedingungen seines Kirchenmusikschaffens unterrichtet, noch liegt eine genügende Zahl präzise datierbarer Kompositionen vor. Nimmt man das Passionsoratorium „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ als Maßstab für Grauns „reifen“ Braunschweiger Stil, dann ist Hiller, dem die stilistische Differenz nicht verborgen geblieben war, zuzustimmen. Der komplexere, kunstvollere Stil der Melodik im „Osteroratorium“ unterscheidet sich signifikant von der rührenden Simplizität der späteren Gesänge in der jüngeren Passion. In dieser Hinsicht wie auch in der farbigen Instrumentierung steht das „Osteroratorium“ durchaus dem „Weihnachtsoratorium“ und auch der sog. „Großen Passion“ („Kommt her und schaut“) nahe. Beide Werke werden von den Biographen des 18. Jahrhunderts aber übereinstimmend Grauns Braunschweiger Periode zugewiesen.
Es lassen sich noch weitere Beobachtungen anführen, die für eine chronologische Zusammangehörigkeit mit dem „Weihnachtsoratorium“ sprechen: Erstens ähnelt der melodische Hauptgedanke der Arie Nr. 5 („Zerstreute Schafe, sammlet euch“) sehr stark dem entsprechenden Einfall in der Arie Nr. 19 („Ewger Sohn, erhaltner Segen“) des „Weihnachtsoratoriums“. Zweitens setzt Graun im Eröffnungschor ab T. 50 die 1. Violine in einer Art und Weise ein, die auch für den Schlußchor des „Weihnachtsoratoriums“ typisch ist: Die 1. Violine figuriert die Oberstimme in einer durchgehenden Sechzehntelbewegung unter gleichmäßiger Verwendung von Tonrepetitionen aus. Sie fungiert damit als auskomponierte Klangverstärkung. Drittens weist der seltene Gebrauch des hebräischen Wortes „Goel“ in beiden Texten daraufhin, daß die Dichtungen von einem und demselben Autoren stammen. In diese Richtung deutet schließlich auch viertens die Beobachtung, daß hier wie dort der Bibeltext stark zurücktritt zugunsten frei gedichteter Betrachtungen des Heilsgeschehens. Das Bibelwort ist beschränkt auf die großen Eröffnungschöre des ersten, zweiten und vierten Teils.
Allerdings gibt es auch Unterschiede zwischen den beiden Werken, welche letztlich recht individuell vom Komponisten gestaltet wurden. Zwar ist das vorgeschriebene Instrumentarium fast identisch – das „Weihnachtsoratorium“ benötigt eine Viola pomposa, aber weder ein solistisches Violoncello noch Oboi d’amore –, doch ist seine Verwendung im „Osteroratorium“ deutlich vielfältiger. So gibt es hier keine Arie, die ausschließlich im vierstimmigen Streichersatz gefaßt ist; die einzige streicherbegleitete Arie Nr. 11 („Mein Herz singt dir jetzt Freudenlieder“) weist immerhin noch zusätzlich eine Solovioline auf. Konzertierende Soli von zwei Violoncelli bzw. Fagotten sind in der Arie Nr. 5 („Zerstreute Schafe, sammlet euch“) zu hören, Oboensoli in der Arie Nr. 16 („Sagt’s den Jüngern, saget’s allen“). Erwähnenswert in der außerordentlich farbigen Palette Grauns ist auch das Duett Nr. 24 („Ach, mein Jesu!“), welches durch den Klang von Hörnern und Oboi d’amore geprägt ist. Dem festlichen Anlaß entsprechend hat der Komponist nicht nur die großen Chöre mit Oboen, Trompeten und Pauken versehen, sondern auch die Arien Nr. 7 („Seele, freue dich mit Zittern“) und Nr. 13 („Trotzet ihr Feinde“) sowie den Choral Nr. 14, der den zweiten Teil beschließt. Ohne Parallelstück im „Weihnachtsoratorium“ sind schließlich der Choral Nr. 8 („Erstanden ist der heil’ge Christ“) wegen seines obligaten Orchesterparts sowie die Arie Nr. 18 („Die Menschen haben beigetragen“), die streng kontrapunktisch komponiert ist. Dagegen befinden sich die beiden großen Chöre im stile antico Nr. 9 („Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“) und Nr. 22 („Der Herr ist wahrhaftig auferstanden“) auf derselben stlistischen Höhe wie der Chor Nr. 15 („Euch ist heute der Heiland geboren“) aus dem „Weihnachtsoratorium“.
Die vier Teile des „Osteroratoriums“ wurden für die aufeinanderfolgenden Festtage des Ostertriduums sowie des 1. Sonntags nach Ostern (Quasimodogeniti) konzipiert. Dies mag erklären, warum die letzte Kantate deutlich kürzer ausfällt als die anderen Teile. Obwohl Graun natürlicherweise nur die Geschlossenheit der einzelnen Kantaten vermittelst der Rahmung durch Chöre im Blick hatte, steht einer vollständgen Aufführung des Oratoriums nichts im Wege. Zum einen spricht dafür die übergreifende Vielfalt der kompositorischen Gestaltung und zum anderen die in der Intention des zugrundeliegenden Textes begründete Möglichkeit, die von Kantate zu Kantate wechselnde Perspektive in der Betrachtung des Ostergeschehens quasi gebündelt wahrnehmen zu können. Andererseits bietet sich auch die Herauslösung einzelner Kantaten aus der Vierergruppe für eine Aufführung an.
Das „Osteroratorium“ ist nur in einer einzigen Quelle vollständig überliefert. Sie stammt aus dem Besitz Christian Benjamin Kleins (1764–1825), welcher von 1780 an Kantor in Oberschmiedeberg (Schlesien) war. Zusammen mit der gesamten Musikbibliothek Kleins gelangte sie 1829 in den Besitz der Universität Bonn, in deren Musikwissenschaftlichem Institut sie sich heute befindet (Signatur: Ec 230.15). Die Partiturabschrift, die den irreführenden Titel „Passions Cantate“ trägt und als Autor lediglich „Graun“ nennt, wurde von Klein möglicherweise selbst angefertigt, und zwar augenscheinlich zu Studienzwecken, denn Aufführungsmaterial ist aus seinem Besitz nicht nachweisbar. Die Datierung der Abschrift ist nur hypothetisch möglich, da das von Klein verwendete Papier (gekrönter Adler; Vierhakenmarke mit C) dafür keinen präzisen Anhaltspunkt gibt und eine Schriftchronologie nicht vorliegt. Wahrscheinlich entstand sie im zeitlichen Zusammenhang mit Hillers Wirken in Breslau in den späten 1780er Jahren, welches Klein nachweislich aufmerksam verfolgt hat. Da Hiller das Werk offensichtlich kannte, könnte er Klein die (heute verschollene) Vorlage für die Abschrift zur Verfügung gestellt haben.
Fragmente der Komposition sind auch in Danzig überliefert. In einem Quellenbestand aus der St. Johannes-Kirche (PL GD: Bibl. Joh. Ms. 184) sind der Eingangs- und der Schlußchor der ersten Kantate sowie ein dazwischen eingefügtes, von einem unbekannten Komponisten stammendes Rezitativ für Tenor und Basso continuo („Da der Sabbath vergangen war“) überliefert, und zwar sowohl in einer Partitur als auch in einem umfangreichen Stimmensatz. In der möglicherweise erst aus dem 19. Jahrhundert stammenden Abschrift wurden nachträglich noch die instrumentalen Vor- u. Nachspiele des Chorals gestrichen. In dieser verstümmelten Form war das Werk für den Gottesdienst am ersten Pfingsttag bestimmt.
(Vorwort zur Partitur von Christoph Henzel)