Die Kantate „Die Geburt Jesu Christi“ steht am Anfang einer Reihe von insgesamt neun großen, vom Umfang her oratorienhaften Werken, die Johann Wilhelm Hertel als ehemaliger „Hof- und Capell-Componist“ in den Jahren zwischen 1777 und 1783 für die geistlichen Konzerte am Hofe Herzog Friedrichs von Mecklenburg-Schwerin (reg. 1756–1785) komponierte. Mit Sicherheit ist Hertels Weihnachtskantate nach dem Jahr ihrer Entstehung und Erstaufführung 1777 mehrfach in Ludwigslust erklungen, eventuell sogar als Repertoire-Stück regelmäßig in der Weihnachtszeit musiziert worden. Zur Beliebtheit des Werkes trugen neben dem harmonisch ausdrucksstarken Eingangschor und den schlicht gesetzten Chorälen über bekannte Weihnachtsliedmelodien sicher auch die in Trompetenglanz erstrahlende Engelsverkündigung und der groß angelegte achtstimmige Schlusschor bei. Unter den insgesamt 24 Sätzen der Kantate gibt es sechs Arien, die der Komponist jeweils bestimmten Sängern der Hofkapelle zudachte und die von unterschiedlichem Charakter sind. Manche dieser Solosätze lassen barocke Muster durchscheinen wie die nur von gedämpften Streichern begleitete Andachts-Arie „Hieher, wo meine Seele glühet“ in der pathetischen Tonart Es-Dur und die koloraturreiche Jubel-Arie „Freuet seinereuch mit Beben“. Gerade letztere aber – das der italienischen Primadonna zugeschriebene Bravourstück der Kantate – bezeugt mit ihren Trommelbässen, rasanten Unisono-Figuren und überraschenden harmonischen Wendungen den großen sinfonischen Erfahrungsschatz des Komponisten und einstigen Schülers Carl Philipp Emanuel Bachs. Ausgesprochen pastoralen Charakter hingegen tragen die erste Arie „Wie der Quelle sanftes Rieseln“ mit solistisch eingesetzter Oboe und das von Vorhaltsharmonik geprägte flötenbegleitete Duett „Da prangt der Sieger ohne Heere“. So wirken verschiedene Einflussbereiche in Hertels Weihnachtskantate zusammen: die Tradition der beliebten lyrischen Hirtenidylle steht neben der des dramatischen Oratoriums, barockes Affektendenken neben sinfonischem Gestaltungswillen. Hinzu kommen die kirchenmusikalischen Tugenden: kontrapunktisches Können und Erfahrungen in der vokalen Choralbearbeitung.
(aus dem Vorwort von Franziska Seils)